Nichts gecheckt? Warum "You" mit seiner Message phänomenal gescheitert ist
Stalking, but make it sexy!
Einst hat die Netflixserie "You" als "Cautionary Tale" um die Gefahren von Cyberstalking begonnen. Heute ist sie ein Zerrspiegel der Welt, in der wir leben: Wo Stalking romantisiert wird und weiße, attraktive Männer die besten Chancen haben, mit Verbrechen – selbst mit Mord – davonzukommen.
Gott sei Dank geht "You – Du wirst mich lieben" am 24. April mit der fünften Staffel zu Ende. Und das sage ich als Fan der ersten Minute der Thrillerserie. Ich kann mich genau an meine Vorfreude auf die erste Staffel 2018 erinnern und, wie ich sie innerhalb von 48 Stunden verschlungen habe. Vier Staffeln und sieben Jahre später stelle ich ernüchtert fest: Die Serie funktioniert heute nicht mehr. Die intendierte zynische Sozialkritik des Erfolgshits scheitert über die Staffeln hinweg immer mehr an sich selbst – und scheint auch am eigenen Publikum vorbeigegangen zu sein. Besonders erschreckend: Wovor die Serie einst als überzogene Satire gewarnt hat, ist heute unsere Realität.
"You – Du wirst mich lieben" in Zeiten junger Social Media
Um zu verstehen, warum "You" letztlich mit seinen Messages gescheitert ist, schauen wir uns diese erst einmal genauer an – und unternehmen eine mentale Zeitreise zurück in das Jahr 2014. Denn in diesem Jahr erscheint Caroline Kepnes' gleichnamiger Roman, der später als Inhalt der ersten Staffel herhalten würde. Instagram ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zarte vier Jahre alt. Auch Twitter ist da mit acht Jahren noch im Grundschulalter, Facebook feiert sein zehnjähriges Bestehen. Social Media steckt 2014 noch in den Kinderschuhen. Ein "neues" Phänomen, dessen Gefahren uns erst in den kommenden Jahren so richtig bewusst werden.
Kepnes spricht mit ihrem Buch und drei Jahre später mit der gleichnamigen Serie ("You" feiert 2017 auf Lifetime Premiere, wechselt 2018 zu Netflix) den Zeitgeist an. Dass ausgerechnet "Gossip Girl" Penn Badgley die Rolle des Stalker-gone-Serialkiller verkörpert, macht die Sache rund.
Kein Wunder also, dass sich die erste Staffel auf Netflix zum großen Erfolg entwickelt. Laut dem Unternehmen erreicht "You" damals innerhalb von vier Wochen vierzig Millionen Zuschauende. Die Frage, die Staffel eins gestellt hat, war interessant, neu und schaurig realistisch: Was, wenn wir einen Stalker ins eigene Schlafzimmer lassen – weil wir ihn unbewusst auf Social Media angelockt haben?
Wenn Stalking romantisiert wird
Doch was 2014 als Warnzeichen, besonders für junge Frauen, beginnt, ist heute erschreckend nah an unserem Alltag. Laut Statistik des Bundeskriminalamts werden im Jahr 2023 so viele Frauen und Mädchen Opfer von Cyberstalking und andere Formen digitaler Gewalt wie noch nie zuvor. Es spricht von 17.193 Betroffenen und einem Anstieg von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – der größte Anstieg in gegen Frauen gerichtete Straftaten. Die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher. Auch alle anderen Strafdelikte, die gegen Frauen verübt werden, wie Sexualstraftaten, häusliche Gewalt und Tötungsdelikte haben zudem zugenommen.
Serien wie "You" sind nicht nur Spiegel, sondern auch Verstärker dieser Entwicklung. Eine Studie aus dem Jahr 2014 belegt, dass die romantisierte Darstellung von Stalking in Filmen und Serien Frauen wie Männern beibringen, dass es sich bei dem Strafdelikt um ein "Kompliment" handle. Teilnehmer der Studie, denen Beispiele von "hartnäckigen Umwerben" in Romcoms präsentiert worden sind, sind eher dazu verleitet gewesen, Opfern von Stalking die Schuld selbst zuzuweisen oder die Tat zu verharmlosen.
Genau mit diesem Klischee spielt die Serie bewusst. Serienmacherin Sera Gamble erklärt im Gespräch mit "Vulture", dass Protagonist Joe Goldberg "praktisch jede großen Romanze der westlichen Welt" gelesen habe und von dieser geprägt sei. Das Resultat: Obsessives und Grenzen überschreitendes Verhalten. Doch kommt die Ironie von Goldbergs extremen Verhalten bei den Zuschauenden an, wenn auch sie von denselben Büchern, Serien und Filmen geprägt worden sind?
Wie die Zahlen der BKA beweisen, sind Goldbergs Methoden, die vielleicht anfangs noch als überzogen und unrealistisch gesehen werden, heute beängstigender Weise längst im Mainstream angekommen. Mit ernstzunehmenden Gefahren für Frauen.
Toxische Maskulinität und Gewalt an Frauen in "You"
"You – Du wirst mich lieben" ist nicht nur eine Exploration von den Gefahren der sozialen Medien, sondern auch von toxischer Maskulinität. Es zeigt satirisch, was passiert, wenn ein Mann alles am besten zu wissen scheint. Wenn dessen Arroganz und Kontrollsucht zu Entführungen, Gewalt und Mord führen – und er trotzdem ungeschoren davonkommt. Sei es aufgrund seines Charismas, aufgrund von Framing, Gaslighting oder zunehmender Macht und Reichtum (letztere kommen nun in Staffel fünf als Schutzfaktoren für Joe Goldberg hinzu).
Die Thrillerserie lädt gleichzeitig auch sein Publikum zum Gedankenspiel ein: Welche extremen Taten können wir Männern verzeihen, wenn sie sympathisch und gutaussehend genug sind und ihre Taten glaubhaft rechtfertigen?
Goldberg mordet zwar gefühlt geschlechtsunspezifisch – 13 Männer und "nur" fünf Frauen in vier Staffeln – aber meist im Namen einer obsessiven Liebe. Einerseits porträtiert er sich als Beschützer und Held, bringt Vergewaltiger und Frauenschläger um. Andererseits fügt er Frauen genauso leid zu. Er ist es auch, der seine eigenen Partnerinnen verfolgt, belügt, manipuliert, einsperrt, verletzt und schließlich tötet.
Da wir die gesamte Handlung und jede Figur durch Goldbergs Augen sehen und durch seinen internen Monolog direkten Zugang zu seiner Gedankenwelt haben, werden wir Zuschauer:innen bewusst manipuliert. Auch wenn es um Themen wie Gewalt an Frauen oder Femizide geht. Joes Narrativ macht eines immer wieder deutlich: Alle Frauen scheinen ihr Schicksal selbst verschuldet zu haben. Und wir als Publikum helfen bereitwillig mit, dieses Märchen aufrechtzuerhalten.
Zu dem Thema kann ich euch auch Vivians tollen Text “Binging Männer-Gewalt” ans Herz legen.
Ist Mord an oberflächlichen Charakteren weniger schlimm?
Außerdem sind die Frauen in "You" nichts weiter als reine Handlungsmittel (engl. plot devices). Sie treiben die Handlung voran, aber bleiben dabei schemenhaft. Meist erfahren wir von ihnen nicht mehr, als was sich Joe in seinen "Online-Recherchen" und in seiner Obsession über seine Objekte der Begierde zusammenreimt. Die weiblichen Charaktere bleiben dadurch objekthaft, wirken oftmals oberflächlich. Ihr Leiden oder ihre (echten) Gefühle sind zweitrangig.
Nur Love Quinn in den Staffeln zwei und drei erhält einen dreidimensionalen Charakter, wird aber von Joe als "die Verrückte" abgestempelt, da sie mit den selben Methoden durchs Leben geht wie er. Doch auch sie – die einzige Figur mit Tiefe – zahlt das Erlöschen seiner kurzlebigen Obsession mit ihrem Leben.
So scheitert die Serie mit jeder Staffel an dem Ziel, eine Message gegen Gewalt an Frauen glaubhaft rüberzubringen. Denn sie bleibt in dem Narrativ stecken, dass Frauen Männer benötigen, um sie zu schützen. Der Fokus bleibt stets auf dem Gewalttäter selbst. Damit nimmt die Serie seinen weiblichen Figuren die Stimmen, die es so dringend bräuchte.
Frauen, die Serienmörder lieben
Dass die Message gegen Misogynie beim Publikum nicht anzukommen scheint, beweist der anhaltende Online-Diskurs über die Serie. Häufig lesen sich vor jeder neuen Staffel zahlreiche frauenfeindliche Kommentare über die anstehende "Love Interest" für Goldberg. Auf TikTok diskutieren Fans der Serie darüber, dass die Protagonistinnen "von Staffel zu Staffel hässlicher" werden würden. "Der Bruder hat kontinuierlich weniger schöne Frauen" oder "Das neue Mädel sieht aus wie Quentin Tarantino" sind beispielsweise die ekelhaften Kommentare, die aktuell massenhaft über Schauspielerin Madeline Brewer zu lesen sind. Sie tritt der fünften Staffel als Joes mögliches nächstes "You", also Person seiner Obsession, bei.
Gleichzeitig wird seit der ersten Staffel öffentlich für den Serienmörder Joe Goldberg geschwärmt. Klar, Penn Badgley ist ein gutaussehender Schauspieler, der in seiner Karriere vor "You" meist als das romantic lead besetzt worden ist. Doch reicht das, um über die grausamen Taten seiner Figur hinwegzutäuschen? Online verteidigen tausende Frauen wie Männer die Handlungen des Serienkillers. Andere sind der festen Überzeugung, dass sie den Psychopathen ändern könnten. Das missfällt auch Hauptdarsteller Badgley. Auf Twitter/X diskutiert er regelmäßig mit Fans der Serie, die Goldberg romantisieren und sexualisieren.
Nach der ersten Staffel hat Badgley sein Unbehagen außerdem im Interview mit "Vice" zum Ausdruck gebracht: "Es war so ein bisschen so, als hätten sich all meine größten Ängste und Hoffnungen, darauf wie die Menschen reagieren würden, gleichzeitig erfüllt. Es gab so viele Reaktionen, die Joes Fehler komplett ignoriert haben, was der Sinn der Serie ist. Sie waren richtig von ihm angezogen." Zwar verstehe der Schauspieler diese Resonanz, da die Serie "mit dieser Energie" spiele, allerdings sei es für ihn trotzdem "besorgniserregend" gewesen. Natürlich manipuliert die Serie bewusst sein Publikum, um auf der Seite seines Protagonisten zu stehen. Was bedeutet es, wenn im Jahr 2025 selbst fiktive Mörder wie Goldberg öffentlich sexualisiert und in Schutz genommen werden?
Was Joe Goldberg und Luigi Mangioni gemein haben
Die Anziehung und Romantisierung von Mördern und anderen Schwerverbrechern ist kein neues Phänomen. Man spricht dabei von Hybristophilie oder umgangssprachlich Bonnie-und-Clyde-Syndrom. Charles Manson ist Anführer einer ihm hörigen Sekte gewesen und hat auch darüber hinaus zahlreiche Anhänger:innen gehabt. Ted Bundys Groupies sind ihm sogar bis in den Gerichtssaal gefolgt. Aber auch die aktuelle Popkultur hat ein Beispiel für einen mutmaßlichen Schwerverbrecher, dem mehrere Fans online verfallen sind: Luigi Mangione.
Mangione ist der Hauptverdächtigte an der Tötung von Brian Thompson, dem CEO des US-amerikanischen privaten Krankenversicherungsunternehmens "UnitedHealthcare". Der Fall sorgt online nicht nur aufgrund der kritischen Gesundheitsversorgung durch Krankenkassen in den USA für Furore. Fan-Posts in den sozialen Medien feiern vor allem das Aussehen des 26-Jährigen. Aufnahmen Mangiones werden kurz nach seiner Verhaftung zu tausendfachen "Fan-Edits" auf TikTok zusammengeschnitten – unterlegt mit Songs wie Shaggys "Mister Lover Lover" oder "Hey Daddy" von Usher.

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Luigi Mangione wird online als Held gefeiert und erhält von seinen Unterstützer:innen sogar Spenden in Höhe von insgesamt rund einer halben Millionen US-Dollar. Ein Privileg, das er genießen darf, weil er weiß, schön und männlich ist – die besten Voraussetzungen also, um als sexy Heldenbild des Internets zu fungieren. Doch welches Bild vermitteln wir, wenn wir einen mutmaßlichen Mörder als Sexobjekt zelebrieren?
Wir verharmlosen damit nicht nur seine Tat, sondern senden auch ein Signal an mögliche Trittbrettfahrer: Wenn man weiß, männlich und gutaussehend ist, könnte eine grausame Straftat Online-Ruhm und Verehrung einbringen. Außerdem stärkt es das Phänomen des White-Saviour-Komplexes: Benötigt die Welt einfach mehr weiße, cis-hetero Männer, die Dinge auf brutale Weise selbst in die Hand nehmen, um uns alle zu retten?
Es wird Zeit, Joe Goldberg sterben zu lassen
"You" hat sich ursprünglich ein interessantes und relevantes Ziel gesetzt. Die Serie hat uns von unserer patriarchalen Welt, durchzogen von romantisierten Stalking-Mythen und Misogynie, durch Ironie und Überzeichnung entzaubern sollen. Diese Stilmittel sind nicht grundlegend falsch – im Gegenteil. Die erste Staffel von "You – Du wirst mich lieben" hat einen klugen Kommentar auf unsere digitale Welt und toxische Männlichkeit geliefert. Doch sie hat unterschätzt, wie gering die Media Literacy des Publikums ist. Statt erwünschtem Aha-Moment reagiert dieses mit der Romantisierung eines Psychopathen.
Doch anstelle von pointierteren Botschaften hat "You" in "bingeable plot" investiert. Zuletzt mit einem überkonstruierten Murder-Mystery in Staffel vier. Die Serie hat Streamingzahlen über gesellschaftliche Wirkung gestellt und ist inhaltlich immer mehr ins Absurdum gerutscht. Ein Verrat an der eigenen Vision und an den Zuschauer:innen, die sie verstanden haben.
Es wird Zeit, Joe Goldberg sterben zu lassen. In der Serie wie in den Herzen seiner Fans. Die Fragen, die "You" noch vor sieben Jahren provokant angestoßen hat, sind heute Teil einer bitteren Realität. Statt satirisch zu unterhalten, erinnert der Thriller mittlerweile an eine grausame Welt, in der Stalking und Gewalt längst Mainstream sind. Auch Penn Badgley sieht das so. "Es ist eine sich politisch verschärfende Welt, und ich glaube nicht, dass die Serie Sinn machen würde, wenn sie jetzt anfangen würde. [....] Deswegen bin ich sehr froh, dass es jetzt zu Ende geht", verrät er im Interview mit "The Independent".
Rund 35 Prozent aller Frauen in Deutschland sind mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexueller Gewalt betroffen. Doch nur circa 20 Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren, wenden sich an eine Beratungsstelle. Hier setzt das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ an. Unter 116 016 können sich betroffene Frauen, Menschen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen und Fachkräfte zu allen Formen von Gewalt gegen Frauen beraten lassen.
Bildquellen: Header: Netflix/Collage via Canva, Poster "You" Season 1: Wikimedia Commons
Danke fürs Lesen! “chronisch online” ist eine Popkultur-Kolumne, in der ich wöchentlich über Themen nachdenke, die mich und/oder das Internet beschäftigen. Oft feministisch, meistens sozialkritisch und hoffentlich immer unterhaltsam und informativ.
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„Deswegen bin ich sehr froh, wenn es jetzt zu Ende geht“ - me too, Penn, me too